Das Virus Corona hat die Stadt und mit ihr die Menschen, die in ihr leben, stark verändert. Im Frühjahr 2020 kam der erste totale Shutdown nach Berlin. Wir haben fast alle, soweit es möglich war, Home-Office und Home-Schooling gemacht und waren in den eigenen Wänden gefangen. Dann kam der kurze Somme der Freiheit – mit Maske. Nun stecken wir wieder in den regionalen und Teil-Lockdowns fest. Wie wird es weitergehen?
In meinen Fotos möchte ich die Menschen und ihren teils sehr unterschiedlichen Umgang mit dem Virus zeigen. Mal nachdenklich, ein wenig traurig, mal kämpferisch, ironisch, gut gekleidet oder gelassen, wir gehen alle ein wenig anders mit dem neuen Leben um, das eines Tages hoffentlich historisch sein wird.
Merlin – Der lesende Obdachlose unter der Autobahn von Berlin
Ich gehe jetzt seit vier Monaten jeden Tag auf meinem Weg zur Arbeit an einem Obdachlosen vorbei, der sich unter der Autobahnbrücke an der Mecklenburgischen Straße positioniert hat. Das ist keine 100 Meter von dem Hauptsitz der „Deutsche Wohnen“ entfernt, die für ihre Miet-Politik in die Kritik geraten ist. Einen direkten Zusammenhang gibt es hier natürlich nicht, aber dennoch ist es augenfällig. Denn Jahre vorher saß hier niemand. Obdachlosigkeit breitet sich in der Stadt aus.
Der Obdachlose sitzt fast immer auf seinem Matratzenlager im Schneidersitz und liest ein Buch. Das ist ungewöhnlich. Ich finde faszinierend und interessant, wie er tagein und tagaus scheinbar unberührt vom Autolärm über seinen Büchern sitzt. Er erinnert mich an eine Beschreibung von Mao, der zum Meditieren an die lärmigste und meist befahrene Kreuzung Pekings gegangen sein soll. Das ist ungefähr so wie ein Läufer im Training, der sich noch Gewichte an die Beine schnallt, um intensiver zu üben.
Heute habe ich ihn angesprochen, weil ich ihn gerne für eine Reportage fotografieren wollte. Der Obdachlose heißt Merlin und liest jeden Tag ein Buch. Zum Beweis, dass es sich um seinen richtigen Namen handelt, möchte er mir seinen Ausweis zeigen, aber ich glaube ihm seinen Namen auch so und konzentriere mich lieber darauf, Fotos von ihm zu machen und mit ihm zu sprechen. Die Bücher, die Merlin liest, holt und bringt er zum Rüdesheimer Platz, wo eine Telefonzelle voll Büchern zum gegenseitigen Tauschen aufgestellt worden ist. Merlin sagt, ohne Bücher könne er die Tage nicht durchstehen. Eine gute Droge, wie ich finde.
Merlins größter Traum ist es, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, für die er sich beworben hat. Heute wird für ihn aber kein so guter Tag werden. Merlin berichtet mir, dass er angezeigt worden sei und heute „geräumt“ werde. Aber er werde nach der Räumung, also nach der Entfernung seines Matratzenlagers natürlich trotzdem weiter unter der Brücke bleiben. Denn, wo soll er hin? Ich frage mich, wer Merlin wohl angezeigt haben mag. Welcher Mensch tut so etwas?
Ich gebe Merlin 20 Euro für seine „Modeltätigkeit“ und wünsche ihm einen guten Tag. Er sagt: „Jetzt ist der Tag doch noch gut geworden. Von Deinem Geld kann ich zwei Tage gut leben.“ Auch ich gehe durch die Bekanntschaft mit Merlin klüger in den Tag. Merlin hat mir mehr als ein Motiv für meine Kamera zurückgegeben.
Björn Hoffmann, Berlin am 6.2.2020
Update: Merlin hat mittlerweile eine Wohnung gefunden, wir die BZ berichtete!