Mitten durch Berlin: Die A100

Wie so vieles in Berlin ist auch die Bundesautobahn 100 eine Besonderheit, denn die Autobahn verläuft in einem Südwestbogen mitten durch das alte West-Berlin. Geplant als Ring-Autobahn in den 50er-Jahren wurde der Ring auch als Folge der deutschen Teilung jedoch bis heute nicht geschlossen. Umso umkämpfter ist der wieder aufgenommene Versuch den Ring sukzessive in der immer enger werden Stadt doch noch zu schließen. Die Ideen zum Umgang mit dem Relikt der autogerechten Stadt sind vielfälitg. Sie reichen vom Fundamentalprotest („A100 stoppen“) über Versuche, die Folgen der Autobahn abzumildern („Deckel drauf“) bis hin zum Vorschlag, aus dem bereits gebauten, aber noch nicht fertiggestellten Trog des 16. Bauabschnitts eine Gemüsefarm zu machen („Paper Plans“).

In meinen Fotos über die A100 möchte ich dem Phänomen der Berliner Stadtautobahn näherkommen, in dem ich sowohl von Lärm und Gestank betroffene Anwohner als auch Aktivisten und Vordenker eines kreativen Umgangs mit dem Baukörper der Autobahn zeige. Dabei soll auch die Autobahn selbst und ihre eigene Ästhetik nicht zu kurz kommen.

Leuchtspuren

A100-Deckel-drauf-Demo am Westend

A100-Anwohnerspaziergang am Westend

A100-Paper-Plans

A100-stoppen-Bündnis

A100-Der 16. Bauabschnitt mit Trog

Merlin – Der lesende Obdachlose unter der Autobahn von Berlin

Merlin - Der lesende Obdachlose
Merlins Lektüre
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Ich gehe jetzt seit vier Monaten jeden Tag auf meinem Weg zur Arbeit an einem Obdachlosen vorbei, der sich unter der Autobahnbrücke an der Mecklenburgischen Straße positioniert hat. Das ist keine 100 Meter von dem Hauptsitz der „Deutsche Wohnen“ entfernt, die für ihre Miet-Politik in die Kritik geraten ist. Einen direkten Zusammenhang gibt es hier natürlich nicht, aber dennoch ist es augenfällig. Denn Jahre vorher saß hier niemand. Obdachlosigkeit breitet sich in der Stadt aus.

Der Obdachlose sitzt fast immer auf seinem Matratzenlager im Schneidersitz und liest ein Buch. Das ist ungewöhnlich. Ich finde faszinierend und interessant, wie er tagein und tagaus scheinbar unberührt vom Autolärm über seinen Büchern sitzt. Er erinnert mich an eine Beschreibung von Mao, der zum Meditieren an die lärmigste und meist befahrene Kreuzung Pekings gegangen sein soll. Das ist ungefähr so wie ein Läufer im Training, der sich noch Gewichte an die Beine schnallt, um intensiver zu üben.

Heute habe ich ihn angesprochen, weil ich ihn gerne für eine Reportage fotografieren wollte. Der Obdachlose heißt Merlin und liest jeden Tag ein Buch. Zum Beweis, dass es sich um seinen richtigen Namen handelt, möchte er mir seinen Ausweis zeigen, aber ich glaube ihm seinen Namen auch so und konzentriere mich lieber darauf, Fotos von ihm zu machen und mit ihm zu sprechen. Die Bücher, die Merlin liest, holt und bringt er zum Rüdesheimer Platz, wo eine Telefonzelle voll Büchern zum gegenseitigen Tauschen aufgestellt worden ist. Merlin sagt, ohne Bücher könne er die Tage nicht durchstehen. Eine gute Droge, wie ich finde.

Merlins größter Traum ist es, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, für die er sich beworben hat. Heute wird für ihn aber kein so guter Tag werden. Merlin berichtet mir, dass er angezeigt worden sei und heute „geräumt“ werde. Aber er werde nach der Räumung, also nach der Entfernung seines Matratzenlagers natürlich trotzdem weiter unter der Brücke bleiben. Denn, wo soll er hin? Ich frage mich, wer Merlin wohl angezeigt haben mag. Welcher Mensch tut so etwas?

Ich gebe Merlin 20 Euro für seine „Modeltätigkeit“ und wünsche ihm einen guten Tag. Er sagt: „Jetzt ist der Tag doch noch gut geworden. Von Deinem Geld kann ich zwei Tage gut leben.“ Auch ich gehe durch die Bekanntschaft mit Merlin klüger in den Tag. Merlin hat mir mehr als ein Motiv für meine Kamera zurückgegeben.

Björn Hoffmann, Berlin am 6.2.2020

Update: Merlin hat mittlerweile eine Wohnung gefunden, wir die BZ berichtete!